Hexe
von Darken » Do 26. Jan 2023, 20:45
Hexe lag auf einem großen schwarzen Altar, über ihr drehte sich der Himmel, Wolken von schwarzen Raben. Zitternd streckte sie die Hand danach aus, merkte wie ihr Gesichtsfeld immer kleiner wurde, von der Dunkelheit umkränzt. Rabenfedern segelten wie dicke tintige Tropfen herab. Wie als sähe sie ihre Hand zum ersten Mal, betrachtete sie die Finger und Lebenslinien in der Handfläche, konnte die Adern darunter pochen sehen.
Dann hob sie den anderen Arm. Aber er war kein menschlicher Arm, er war ein Flügel, tausende Federn sprießten auf und sie schrie auf, ein Schrei der bald zu einem Krächzen wurde. Irgendetwas zog sie fort vom Altar, eine unsichtbare Kraft, die sie in die Lüfte erhob, wo sie ihre Flügel ausbreiten konnte und mit den anderen Raben flog. Die Raben... sie sah dutzende von mattschimmernden Augen, wie Höhleneingänge. Sie sind alle so wie ich.
Vernetzt.
Hexe segelte durch die Dunkelheit und den Federregen bis eine große Festung in Sichtweite kam. Nein, ich will nicht dorthin, durchfuhr es sie entsetzt und Grauen packte sie. Am Fenster sah sie den Schatten eines Mannes und genau dort trieb sie darauf zu. Das Schloss wurde immer größer, an den grauen Wänden knisterten schwarze Fäden entlang wie Blitze. Nein, es ist keine Festung, erkannte sie, es ist ein Juwel, es ist ein riesiges Juwel und er hat es von innen ausgehöhlt wie ein Wurm einen Apfel.
Trotzdem landete sie auf dem Fenstersims und war ganz klein. Der Schatten reckte sich über sie, nahm sie in eine Hand und brachte sie nach drinnen. Sie war nicht mehr lebendig, sie war ein Vogel aus zerbrechlichen Ton und sie hatte furchtbare Angst, der Schatten würde sie fallen lassen und kaputt machen.
Bitte, mach mich nicht kaputt, flehte sie. Da richtete der Schatten seine Augen auf sie und sie waren vollkommen tot.
Nein, ich werde dich ganz machen, widersprach er. Lächelnd.
Hexe wachte keuchend auf, heftig atmend. Es war dunkel im Raum und sie schweißgebadet. Was... was war hier los? Wo war der Schatten? War sie immer noch in der Burg? Sie streckte ihre Hand orientierungslos aus, bemerkte, dass sie in einem Bett lag. Nein nein, kein Bett. War jemand neben ihr? Nein, sie war alleine, aber wie lange noch? Sie hatte Angst gleich würde jemand die Türe öffnen und auf sie steigen. Nachdenklich knabberte sie an ihren Fingernägeln und langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Katzengleich erhob sie sich vom Bett, aber dann war es mit ihrer Geschmeidigkeit schon vorbei, denn sie war es überhaupt nicht mehr gewöhnt zu gehen und sie wankte sie wie ein junges Fohlen, mußte sich an einem Stuhl abstützen.
Dabei geschah es das erste Mal, dass sie an sich herabblickte. Hexe schluchzte auf und schleuderte den Stuhl mit überraschender Kraft von sich.
*Nein, nein, nein! Du hast versprochen, du machst mich wieder ganz.* Sie heulte gequält auf. *Ich hasse diesen Körper, ich hasse hasse ihn. Und andere hassen ihn auch, alle hassen ihn.* Sie lehnte sich erschöpft an die Wand, strich sich die schwarzen Haare zurück. *Jonael? Wo bin ich? Ich will wieder weg. Das ist die schreckliche Welt, ich mag die schreckliche Welt nicht. Hier ist nur Schmerz.* Aber Jonael antwortete nicht und sie fühlte sich so allein. Dabei war Jonael doch ihr Gefährte, er war immer für sie da, er beschützte sie vor dieser Welt.
Hexe taumelte umher bis sie eine weitere Türe erreichte, sie vorsichtig aufdrückte. Im Nachtlicht erkannte sie, dass es ein Badezimmer war und ihr Blick ging wider ihren Willen zum Spiegel. Fassungslos strich sie über ihr Gesicht, fuhr die zarten Linien nach. Hass glomm in ihren mitternachtsblauen Augen an. Nur dieser Körper war an allem schuld. Sie war eine Frau, das wäre alles nicht passiert ohne diesen Körper, dieses Gesicht... Ihre Fingernägel gruben sich fest in die Wange, kratzten sie auf bis sie heftig blutete.
*Geh weg! Geht alle weg*, schrie sie, schlug wuchtig in den Spiegel, der gleich darauf splitterte und ihr Antlitz gleich dutzendfach zeigte. Ihre Hand zitterte, kleinere Splitter steckten zwischen den Knöcheln. Noch einmal schlug sie zu und die Splitter regneten mit dem Blut ins Waschbecken davor. Entschlossen umfasste sie eine der größeren Spiegelscherben, begann sich damit selbst zu verletzen, Beine, Schenkel und Brust aufzuschneiden. Sie spürte den Schmerz kaum, es war eher wie all die inneren Schmerzen endlich durch die Wunden hervorquellen konnten. Die Erinnerungen, die furchtbaren Bilder, der Hass auf sich selbst... alles zerfloss in dem Blut. Hexe sank auf die Kacheln, die mittlerweile auch mit Blut besudelt waren. Sie wollte nicht mehr, sie wollte endlich diesen Körper verlassen, der ihr so viele Qualen bereitet hatten und sie war so zerrissen, dass es schmerzte. Sie war nicht mehr sie, ihre Juwelen nicht mehr ganz und alles zerstört.... der Schatten, der Schatten kann mich wieder ganz machen, dachte sie matt. Aber sie wollte nicht zum Schatten, sie wollte nur zurück in die gute Welt. Dort wo sie vorher gewesen war.
Hexe umfasste die Spiegelscherbe so fest, dass sie in ihre Haut schnitt. Dann nahm sie die Scherbe langsam in den Mund zwischen die Zähne, beugte sich vor und begann ihren Arm und das Handgelenk aufzuritzen bis es so wie in dem Traum mit dem Raben gewesen war und dunkle Flecken vor ihren Augen tanzten. Perlen von Blut zogen sich über das Gelenk, tropften herab. Ganz zuletzt als ihr Körper schon wankte, biss sie auf die Scherbe.
Darken spuckte würgend die Scherbe aus, Blut floss aus seinem Mund, rann über seine zerschnittene Brust. Adrenalin pochte heftig durch seinen Körper, aber vielleicht waren es auch nur seine letzten Atemzüge. Er hatte schon oft gedacht, er würde seine letzten Atemzüge tun. Im Angesicht des Todes kämpfte es sich leichter. Seit dem Aufwachen von Hexe hatte er gerungen wieder die Kontrolle zu erlangen, hatte sie angeschrieen und getobt, doch sie war taub geblieben. Und erst als sie die Scherbe tief durch die Adern gezogen hatte, hatte Darken endlich die Kraft gefunden, sie zu bezwingen.
Doch es schien als wäre es zu spät...
Er robbte sich keuchend über den Boden. Nein, es ist nie zu spät, dachte er verbissen. Ich sterbe nicht so. Nicht so. Eine tiefrote glatte Blutlache breitete sich aus. Jeder andere wäre schon liegen geblieben und hätte das Bewußtsein verloren, doch er hielt den Blick fest auf die Türe gerichtet, drückte sich mit den Beinen ab, schob sich mühsam über die Kacheln. Hilfe... er mußte... mußte Hilfe holen. Darken versuchte etwas zu sagen, aber seine Zunge blutete immer noch und er spuckte das Blut aus. Er wollte verdammt nochmal leben, das hatte er immer getan, wenn er etwas starkes besaß, dann war es sein Lebenswillen.
Doch die Türe schien so ewig weit weg zu sein und sein Kopf war so schwer... Darken ließ ihn auf die Kacheln sinken, um ihn herum drehte sich alles, sein Herz schlug langsam und wummernd. Sein Geist löste sich, aber in Gedanken streckte er sich nach Lia aus, sein blutiger Arm reckte sich bis in ihre Träume.
*Lia... du mußt mir helfen... ich sterbe.* Ein Spiegel zeigte sein Antlitz, bis Blut darüber rann und die Sicht darauf versperrte.
Er war sich nichtmal sicher, ob er das nun halluziniert oder wirklich getan hatte. Mit letzter Kraft kroch er weiter über den Boden, stachelte sich selbst dazu an.
"Eo....", hauchte er matt.