Re: Ungewisse Rückreise
von Eneas » So 2. Okt 2022, 10:05
Er hätte Kosta vielleicht nicht gehen lassen sollen, denn die nächsten Tage war es unmöglich ihm nahe zu kommen oder nur zu sprechen. Kosta hatte sich regelrecht in der Krankenstation verbarrikadiert und niemand, nichtmal Zucker, schaffte es ihn dort hinauszulocken. Dennoch verbrachte Eneas einige Zeit vor der Türe, versuchte mit Kosta zu sprechen. Wenigstens um sich zu vergewissern, dass dieser alles hatte was er brauchte. Er würde doch nicht den Rest der Reise eingesperrt verbringen? War es Eneas Schuld und hatte zu viel Druck aufgebaut, dass Kosta sich nicht mehr anders zu helfen wusste als die Krankenstation zu verriegeln? Der Krieger reagierte nicht auf Eneas' Fragen oder Klopfen. Es war entmutigend. Eneas konnte nur hoffen, dass Kosta irgendwann von selbst herauskam.
Dies geschah als sie in Kaeleer das geheime Unterwassertor erreicht hatten. Eneas bat die Soldaten nach drinnen, was zunächst etwas Überredungskunst erforderte. Die Soldaten wollten sich nichts sagen lassen und erst mit Zuckers Hilfe schafften die Piraten es, dass die Gruppe unter Deck ging.
Dann sammelte sich die Mannschaft, um Leto zu helfen. Als Priesterin konnte sie zwar das Tor öffnen, aber sie mussten auch das Schiff ins Wasser bekommen und durch das sich öffnende Tor. Leto benötigte all ihre Kraft, um das Ritual zu verziehen, weswegen der Rest sich um den Schutz der 'E' kümmerte und ein riesiges Schutzschild erschufen, während sie das Schiff mithilfe der Kunst langsam nach unten drückten.
Während Eneas den Schild stärkte und die Geister von allen anderen spürte, fühlte er plötzlich die vertraute Kraft Kostas. Er war nicht hier bei ihm, wie sonst oft, aber Eneas spürte ihn. Er half mit, fügte sich in das Schild ein. Der Kapitän schöpfte Zuversicht daraus. Wenn Kosta immer noch ein Teil der Mannschaft sein wollte, würde er hoffentlich mit ihnen nach Nuranessa segeln. Es fühlte sich so gut an seinen Freund so wieder spüren zu können. Eneas musste sich bemühen, sich auf die eigentliche Aufgabe zu konzentrieren.
Nachdem sie auf der anderen Seite in Terreille ankamen und die 'E' wieder die Wellen durchbrach, ging Eneas gleich zur Krankenstation, klopfte an die Türe.
"Danke für deine Hilfe", sagte er, "Brauchst du etwas Essen als Stärkung?" Sie hatten alle ihre Juwelen etwas erschöpft. Eneas wartete, aber es kam selbst jetzt keine Antwort. Er schwieg, hatte das Gefühl auf der anderen Seite der Türe erstickte Geräusche zu hören. Besorgt setzte sich Eneas an die Türe, wartete, aber Kosta reagierte nicht mehr.
Eneas war froh, dass sie wieder in Terreille waren. Je mehr Distanz sie zwischen Dalmadans Feste und sich aufbauen konnten, desto besser. Und je schneller sie nach Draega kamen, ebenso. Er machte sich große Sorgen um Timaris. Laree und der Haushofmeister müssten längst in Draega sein. Hoffentlich hatten sie es geschafft. Hoffentlich war das Gegengift erfolgreich.
Es blieb nichts anderes zu tun als zu hoffen und zu warten. Er versuchte nicht zu oft zur Krankenstation zu gehen, aber wenn er morgens auf dem Weg zur Messe war, um ein Frühstück einzunehmen, klopfte er kurz an die Türe und wünschte Kosta einen guten Morgen. Natürlich ließ er auch Essen in die Krankenstation schicken und sorgte dafür, dass sein Freund alles hatte was er für den Alltag brauchte. Manchmal hielt er es doch nicht aus, versuchte Kosta nach draußen zu locken. Zum Beispiel wenn ein besonders klarer Tag war oder wenn sie an der Küste bestimmter Territorien vorbeiglitten. Sie versuchten sich von Raej fernzuhalten, steuerten auf den Strom zwischen Chaillot und Shalador zu, als eines Tages Rufe vom Ausguck hoch oben auf dem Mast laut wurden.
"Schiffe am Horizont!", rief Welpe. Der Jugendliche war oft dort oben und nun, wo die Gewässer gefährlich werden konnten, hatte Eneas immer eine Wache gewollt, die die Umgebung sondierte.
"Welche Fahne?!", rief er hinauf. Sie warteten alle gespannt.
"Dhemlan! Drei Stück!", kam dann die ernüchternde Antwort. Eneas atmete tief durch. Drei waren viel.
"Sollen wir auch unsere dhemlanische Flagge hissen?", fragte Damien, während die Piraten bereits eilig zu den Waffen griffen und die Kanonen vorbereitet wurden.
"Wenn es Kriegsschiffe sind, werden wir schneller sein. Wir werden versuchen sie auszumanövrieren", entschloss sich der Hayllier. "Macht euch bereit! Setzt alle Segel!" Sie mussten schnell sein.
Zucker kam zusammen mit einigen der anderen Soldaten zu ihm. "Die dhemlanische Armee macht kurzen Prozess mit Deserteuren und Verrätern. Können wir helfen?", fragte der Prinz. Eneas nickte, wies auf einige Kanonen, wo sie helfen konnten diese zu beladen. Er war so beschäftigt damit Befehle über Deck zu brüllen, dass er nicht mitbekommen hatte wie Leto und Maria verschwunden waren. Wohl bekam er mit, als Kosta plötzlich an Deck kam. Eneas brach mitten im Wort ab, starrte den anderen Krieger an. Verflucht, er sollte sich zusammenreißen, aber der Anblick seines Freundes bereitete ihm weiche Knie. Ihn nach so langer Zeit wieder in der Piratenkluft zu sehen, komplett mit Säbel und Stirntuch, es tat so gut und gab ihm das Gefühl, dass alles wieder in Ordnung werden würde. Kosta gehörte hierher. Er gehörte zu ihnen. Wie konnte Kosta glauben, er wäre etwas anderes? Eneas lächelte ihn an, als er nähertrat. Kosta sah sehr verwegen aus und diese wilde Frisur, halb schwarz, halb blond, stand ihm ausnehmend gut. Etwas blass sah er aus, aber nichts was ein paar Tage in der warmen, hayllischen Sonne nicht kurieren könnten. Eneas versuchte sich zusammenzureißen, nickte seinem Freund zu.
"Es tut gut wieder an deiner Seite kämpfen zu können", sagte er. "Du kommst gerade rechtzeitig." Bald würde es ernst. Man konnte die Schiffe jetzt mit bloßem Auge erkennen. Die Chance, dass die dhemlanischen Schiffe an ihnen vorbeifuhren, wurde geringer und geringer. Wie Raubfische zogen sie hinter ihnen her, versuchten sie an beiden Seiten zu flankieren. Die 'E' bemühte sich dieser Zange zu entwischen, war immer noch eine Nasenlänge vorne.
"Feuert einen Warnschuss ab!", wies er an. Die Dhemlaner sollten lieber auf Distanz bleiben. Inzwischen konnte man schwach einzelne Figuren am feindlichen Deck ausmachen. Es erinnerte Eneas an die Verfolgungsjagd von Loraka weg. Die Mannschaft zündete die hinteren Kanonen.
"Juwelengeschosse!", brüllte Amancio. Sie sahen die zischenden Machtkugeln, die im hohen Bogen auf sie zuflogen. Wenn eines davon ihre Segel zerfetzte, wären sie gelähmt.
"Schilde!", rief Eneas. Die anderen wussten was gemeint war. Um ihre Kräfte zu schonen, errichteten sie nur dort einen Wall aus Kunst wo die Einschläge zu vermuten waren. Eneas hatte keine Zeit mit Kosta zu reden. Es gab nichts zu reden außer kurze, hektische Anweisungen, während sie alle zusammen halfen ein Ausweichmanöver nach dem anderen zu absolvieren, immer dem Wind folgend und die Dhemlaner auf Abstand haltend. Kosta war stets an seiner Seite. Sie waren eingespielte Partner auf Deck. Jeder Handgriff war Eneas mittlerweile in Fleisch und Blut übergangen, jedes Ziehen der Taue, Verknoten, Wenden, Ducken wenn die Rahen über ihre Köpfe hinwegrauschte, wenn die Segel gedreht wurden.
Sie hatten es sogar geschafft drei Treffer in der Breitseite eines der Schiffe zu landen, als sie glücklich beidrehen konnten und die Dhemlaner noch dabei waren ihre Kanonen auszurichten. Die Soldaten johlten jubelnd. Eneas lächelte leicht, ehe er alle wieder zur Eile drängte. Mithilfe der Juwelenkräfte trieben sie die 'E' pfeilschnell über die Wellen. Sie mussten die drei Häscher abschütteln.
"Weitere Schiffe!", rief Vissarion da. "Direkt vor uns!"
Eneas fluchte ungeniert. Sie waren eingekesselt. "Kurs auf die Chailloter Inseln!", rief er Farell zu, der am Steuerrad stand. Chaillot hatte noch lange vor der großen Hauptinsel viele Atolle, Sandbänke, Inseln und trügerische Buchten. Dort würden sie hoffentlich entkommen können. "Legt alles in die Segel!", brüllte er über Deck. Aufgaben kam nicht in Frage.
"Hayll! Hayllisches Segel!", rief Vissarion von oben im Ausguck hinunter.
Was? Hayll? Sie waren längst nicht in der Nähe. Eneas nahm ein Fernrohr zur Hand, sah in die Richtung. Seine Miene hellte sich auf. Tatsächlich, die vertrauten Segel ihrer Heimat. Mehr noch. Er sah am bemalten Kiel und der Bauart der Schiffe, dass jene aus der Armee stammen mussten.
"Ein besseres Begrüßungskomitee kann es nicht geben", sagte Farell. Eneas konnte ihm nur beipflichten.