Re: Der verlorene Sohn
von Pyratres » So 8. Jan 2023, 19:21
Es offenbarte sich, wie wenig Minan über das alltägliche Leben wusste. Kannte er doch noch nicht einmal die Bezeichnungen Neffe und Onkel und das stimmte den Kriegerprinzen sehr traurig. Gleichzeitig machte es ihn auch wütend und er hätte am liebsten die dafür verantwortlichen Köpfe dafür eingeschlagen. Doch er blieb ruhig, um den Jungen nicht noch mehr zu erschrecken.
"Ja, du bist so ein Neffe und Eoshan ist meine Nichte", erklärte er freundlich. "Normalerweise, also wenn wir blutsverwandte wären, dann wäre ich der Bruder deiner Mutter oder deines Vaters. Und wäre ich eine Frau, dann wäre ich deine Tante. Tanten und Onkels sind dazu da, dass sie die Kinder ihrer Schwestern oder Brüder etwas verwöhnen, ihnen ab und zu eine Süssigkeit zustecken und mit ihnen schöne Dinge unternehmen. Manchmal passen sie auch auf die Kinder auf, wenn die Eltern mal etwas Zeit für sich haben wollen und helfen bei der Erziehung."
Das war etwas schwer zu erklären. So etwas musste man einfach erleben, um es wirklich zu verstehen. Doch Pyratres hoffte, dass er trotzdem etwas Licht in die Dunkelheit hatte bringen können. Allerdings war die nächste Frage noch schwerer zu beantworten. Durch Minans Tonfall befürchtete er, dass die Antwort sehr entscheidend war. Und nachdem er nochmals darüber nachgedacht hatte, bemerkte er auch, wie Minan das falsch verstehen könnte bei seiner Vergangenheit.
"Mit lieben meine ich, dass man seine Familienmitglieder einfach gern hat. Selbst wenn man sie streitet. Sie sind dir wichtig und du willst, dass ihnen nichts geschieht. Denk nach, was du für Eoshan empfindest, dann weisst du was ich mit lieben meine. Du wirst feststellen, dass das eine ganz andere Liebe ist, als die zwischen Gefährten. Doch es ist ebenfalls ein sehr starkes und inniges geistiges Band.
Und aufpassen. Kleine Kinder langen gerne ins Feuer, weil es so hübsch aussieht, essen gerne giftige Beeren, weil sie so schön glänzen, krabbeln gerne bis an die Astspitzen hinaus, wo er zu schwach ist, um sie zu tragen, weil sie dort ein Vogelnest mit niedlichen Kücken entdeckt haben. Da du nicht willst, dass ihnen etwas geschieht, passt du eben auf sie auf, um sie vor Gefahren zu schützen. Wobei kleine Kinder ungemein schnell, wenig und phantasiereich sein können, wenn es darum geht sich in irgend eine Gefahr zu bringen.
Wenn sie älter werden, werden sie meist vernünftiger und lernen auf sich selber aufzupassen. Doch auch die Gefahren ändern sich. Wie zum Beispiel wenn Eoshan nach Askavi geht, um sich da mit Lady Angelo zu unterhalten. Da möchte ich sie auch beschützen, damit ihr nichts passiert. Nicht dass die eyrische Königin ihr etwas tun würde, aber auf dem Weg dorthin kann so allerlei geschehen.
Manchmal gibt es auch gar nichts zu beschützen, da keine Gefahr lauern. Dann ist man als Onkel eben einfach nur da. Doch das ist auch ein ganz wichtiger Part. Denn so kann sich Eoshan sicher und geborgen fühlen und weiss, dass sie jemanden zum Reden hat, wenn sie traurig oder sie etwas beschäftigt.
Und jetzt gilt das natürlich auch für dich. Aber ich weiss, dass wir uns noch nicht so gut kennen und wir das Vertrauen zueinander erst aufbauen müssen. Wenn man in eine Familie hineingeboren wird, ist das ganz von alleine da. Wenn man sich eine Familie zusammensucht, muss es erst noch wachsen.
Wie du das mit dem Umarmen gesagt hast. Du kennst mich noch nicht so gut und weisst nicht, was noch passieren könnte. Aber mit der Zeit wirst du merken, dass ich nichts in die Richtung von dir will. Und bis dahin werde ich einfach darauf warten, dass du mich umarmst, wenn du es möchtest. Vorhin wollte ich dich nur trösten. Eoshan hat das immer sehr geholfen, aber du bist ja natürlich nicht sie. Sondern ein eigener Mensch mit eigenen Gefühlen und Wünschen und das ist auch ganz gut so. Aber Minan, Familienmitglieder wollen sowieso nie mehr voneinander. Zwischen denen herrscht keine Sexualität."
Das war ein wirklich schweres Gespräch. Besonders, dass er dabei ruhig bleiben sollte, wenn Minan annahm, dass ihm wieder weh getan würde. Der Kriegerprinz fühlte sich nicht beleidigt, dass so etwas von ihm vermutet wurde. Wusste er ja, was man dem Prinzen angetan hatte. Nein, die Tatsache, dass Minan so etwas wegen seinen Erfahrungen befürchtete, machte ihn rasend.
"Nein", antwortete er etwas traurig auf Minans Frage nach Blutsverwandten. "Das habe ich nicht." Nicht mehr. Doch er sprach nicht gerne darüber und die, die darüber Bescheid wussten, waren tot. Bis auf Talyn. "Ich habe aber noch Eltern und eine Tante. Geschwister habe ich keine. Eine Gefährtin habe ich zur Zeit auch nicht und an Männern bin ich nicht interessiert. Also habe ich auch keinen Gefährten." Er zögerte kurz, wusste nicht so richtig ob er das sagen sollte. Andererseits wussten das eh fast alle an diesem Hofe und da war es nicht fair, dies seinem Neffen zu verheimlichen. Auch wenn es seltsam war, mit ihm darüber zu reden. "Lady Talyn war eine Zeit lang meine Gefährtin. Doch das ist schon sehr lange her. Noch bevor Eoshan geboren wurde. Ich habs dir auch nur gesagt, weil es viele Wissen und damit du über deine Verwanschaft etwas bescheid weisst. Aber ich habe mitbekommen, dass du einen Gefährten hast", wechselte er rasch das Thema und schob den Ball wieder zu Minan zurück.