Re: Sturm auf das Fort
von Laree » Do 18. Jan 2024, 19:56
Jetzt war er also da. Der Tag, der Krieg in Raej tatsächlich endgültig und unwiderruflich anbrach. War sie daran beteiligt? Was hatte Sion davon, wenn er sich Raej gefügig machte? Wo würde er aufhören? Die Welt befand sich eindeutig im Wandel und ihr eigenes Schicksal schien im Vergleich bedeutend gering.
Laree hatte in der Nacht sehr unruhig geschlafen, verwirrende Bilder und Gedanken verfolgten sie bis in ihre Träume. Dort war sie wieder in Hayll, sah Ayden, doch er wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben, nannte sie eine Verräterin und begann sie zu quälen und zu schlagen. Die Hayllierin erwachte heftig atmend und mit einer seltsamen Wut im Bauch. Ein aggressives Aufbegehren. Es erschreckte sie selbst. Ging es gegen Ayden? Sie vermisste ihn, vermisste seinen Schutz und seine Kontrolle, aber ein Teil von ihr schien ihn offensichtlich am liebsten zu Brei schlagen zu wollen. Er hatte sie in diese Situation manövriert. Stück für Stück. Oder doch Timaris? Je mehr räumliche und zeitliche Distanz sie zu dem Maskenspiel am Hof hatte, desto mehr geistige Distanz schien sich auch einzustellen. Wollte sie an diesen Ort wirklich zurück? Wo man sie gerade genug gefügig und abhängig hielt, dass sie sich ganz und gar für das Wohle Haylls aufrieb. Es war nur eine Lüge. Wie so vieles.
Laree erhob sich von ihrem Feldbett, spürte sofort die Blicke der anderen Soldaten im Zelt auf sich. Manche starrten ungehemmt, andere machten es verstohlender. "Was glotzt ihr so?!", fuhr die Gefreite die Männer kampfeslustig an. Sie wollte sich keine Angst machen lassen. Einige der Männer johlten anzüglich, als sie sich umzog. Extra errichtete Laree keinen Sichtschutz, denn das hätte nur noch mehr Neugierde geweckt und sie wollte nicht schwach erscheinen in dem sie sich versteckte.
Auch wenn ihr regelrecht schlecht wurde bei all den gierigen Blicken.
Rasch verließ die Gefreite das Zelt und frühstückte draußen mit den anderen, die Dienst im Fort selbst hatten. Drei Soldaten murrten über ihren Wachdienst in der Nacht, sprachen über die kommende Verstärkung und wie sie dadurch entlastet wurden. Laree hörte bloß zu, ihre Gedanken waren woanders und dieser ekelhafte Soldatenfraß, den man hier als Essen bezeichnete, rief bei ihr wieder Übelkeit hervor.
Nochmal kontrollierte sie ihren Sitz der Uniform, betrat das Gutshaus und mußte erstmal Kaffee für die Offiziere, vornehmlich Orekh, aufsetzen. Dann gab er ihren Befehl, der ihr sehr gelegen kam. Sie sollte draußen Ausschau halten, wann die Sechste aufbrach, und ihm kurz vorher Bescheid geben. So lehnte Laree sich gegen das Geländer auf der Veranda, beobachtete die Zelte in einiger Entfernung. Sie machte Gualterio aus, er war nicht zu übersehen in der bedrohlichen Rüstung und mit dem hohen Kriegsross daneben. Sein Anblick war ein lebendiges Versprechen siegreich zurückzukehren. Ein Mann, dem andere bereitwillig in den Tod folgen würden. Plötzlich kam Laree sich wie eine Voyeurin vor, weil sie eine Seite an ihm beobachtete, die sie niemals hätte sehen sollen.
Die Hayllierin hatte den Blick wieder abgewandt und als sie abermals aufsah, kam Zucker auf sie zu, lächelte ihr verschmitzt zu.
"He, Phönix, ich hoff, du hälst die Stellung während wir weg sind", fing er an.
"Für wen?", gab sie schlagfertig und zweideutig zurück. Der ehemalige Lustsklave grinste.
"Ich hoffe ja für mich, doch ich fürchte, du hast anderes im Sinn." Er warf einen Blick hinüber zu Malateste. Laree presste die Lippen aufeinander, schüttelte dann den Kopf.
"Ich kann es mir nicht leisten auf ihn zu warten. Ich bin nicht an ihn gebunden", wehrte sie ab.
Zucker musterte sie fragend, zuckte schließlich locker mit den Schultern. "Ich lass dir deinen Selbstschutz. Wünsch uns viel Erfolg. Wenn ichs schaffe, bring ich dir ein Souvenir mit", konnte er es nicht lassen weiter zu witzeln. Womöglich war das seine Art mit dem drohenden Tod umzugehen.
"Viel Erfolg. Wünsch mir den auch", gab Laree zurück, dachte dabei an Bovert. Der Dhemlaner war die letzten Tage geduldig gewesen, wissend, dass sie ihm nicht entkommen konnte und ihr Schutz heute verschwinden würde. Zucker legte ihr eine Hand auf den Arm, drückte ihn sanft.
"He, du bist Hayllierin. Lass dir eine List einfallen. Das können wir am besten hab ich mir sagen lassen."
Die Hexe mußte leise lachen. Vielleicht hatte er Recht.
Vom Platz hörte sie Befehle rufen. Gualterios Trupp hatte sich aufgestellt, alles schien zum Aufbruch bereit. Auch die Sechste schien sich soweit gesammelt zu haben. Rashar hatte sich auf sein Pferd geschwungen, daneben saß Malateste auf Zorn und auch noch ein anderer aus der Sechsten hatte ein Pferd. Klinge, wenn Laree sich recht erinnerte.
Die Männer und Frauen aus der Sechsten hatten ebenfalls ihre Ausrüstung geschultert, sammelten sich um ihren Kommandeur.
"Mußt du nicht los?", fragte sie Zucker, hatte derweil dem Hauptmann gesandt.
"Ich hoffte auf einen Kuss zur Motivation..." Seine Finger strichen am Geländer entlang.
"Wollte dir Jason keinen geben?", scherzte Laree.
"Hab mich nich getraut. Seine martialische Rüstung macht mich schüchtern", erwiderte er, grinste schalkhaft. Laree ergriff seine Hand, führte sie zu ihrem Mund und küsste den Handrücken wie bei einem höfischen Zeremionell.
"Komm lebend wieder."
Zucker verbeugte sich gespielt huldvoll, machte kehrt und eilte zu seiner Kompanie. Erst jetzt, wo tatsächlich alle aus der Sechsten auf einem Haufen waren, sah man, dass sie doch weit mehr als eine Handvoll Leute ausmachten. Es mußten fast hundert sein, vermutete Laree. War es ausreichend?
Frostseel und Hauptmann Orekh waren aus dem Gutshaus gekommen, danach folgten noch andere Offiziere, doch Maeve sah Laree nicht. Hatte Tiger sich noch von ihr verabschiedet? Orekh gab den Wachen an den Toren ein Zeichen. Große Hörner wurden geblasen und Trommeln geschlagen. Es war wohl ein notwendiges Ritual, alle beobachteten den Aufbruch. Langsam setzte sich die Kompanie und Malatestes Einheit in Bewegung.
"Schau ihn dir noch einmal gut an, Gefreite, er wird nicht wieder kommen", vernahm sie die süffisante Stimme von Feldwebel Bovert, der sich neben sie gestellt hatte.
"Du hast keine Ahnung", sagte Laree leise, während sie sich eines Schauderns nicht erwehren konnte.
Rashar blieb noch einmal vor dem Gutshaus stehen, verbeugte sich auf dem Pferd. "Ich bringe dir Prinz Tujeks Kopf mit, Kommandeurin", versprach er ihr. "Die letzte Gelegenheit - will der Rest der Zweiten sich anschließen, um einen großartigen Triumph einzufahren?"
Frostseel sagte nichts. Rashar richtete sich wieder auf, nickte den Offizieren nochmal zu und setzte sein Pferd wieder in Bewegung.
"Ihr habts gehört, der Ruhm gehört uns allein!", rief er, "Für Sion!" Die Rufe wurden aufgegriffen, doch in den Gesichtern der Sechsten klang es mehr wie ein geheimer Witz. Die Stimmung unter ihnen war locker. Wenn sie Angst hatten, so zeigte es keiner von ihnen.